Was meinen wir eigentlich, wenn wir von unseren Wurzeln sprechen? In unsicheren Zeiten beschwören wir (statt der Zu- kunft) gern Geschichte und Tradition, unser kulturelles Erbe, die gemeinsame Identität.
Doch Bilder und Metaphern sind keineswegs unschuldig. Mit dem der Wurzeln - so Bettini - drücken wir aus, daß unsere Welt so bleiben soll, wie sie ist. Wir wehren uns gegen Wandel und grenzen uns von anderen ab, deren eigenen kulturellen Wurzeln wir keineswegs dieselbe Wertschätzung entgegen- bringen.
Die Metapher suggeriert etwas Naturgegebenes, im wahrsten Sinne "Fundamentales", eine quasi automatische Zugehörigkeit. Dabei wissen wir eigentlich, daß auch unsere Kultur wie alle anderen durch Aneignung, Wandel und Ver- mischung mit fremden Einflüssen entstanden ist; daß die vielzitierte kollektive Erinnerung oft nicht mehr ist als per- sönliche Nostalgie.
Mit funkelnder Ironie, so der Verlag, umkreist Bettini die vielen Spielarten unserer neuen identitären Obsession: von wiederentdeckten, wenn nicht gar erfundenen Traditionen bis zur Inflation von Gedenktagen, vom Kult der Authentizität und Ursprünglichkeit bis zur Idealisierung von Großmutters Küche ...
Aus dem Italienischen übersetzt von Rita Seuß. (*) Der erste Teil des Buches basiert auf dem 2012 erschienen Essay Contro le radici (Gegen die Wurzeln).
Deutsche Erstausgabe
Gebundenes Buch / Hardcover
Kunstmann MiniBuch ca. 160 Seiten Format ca. 16x11cm ISBN 3-95614-235-7
Preis: 16,00 € (D) - 16,50 € (A) 23,90 sFr (CH)
Dies ist mal wieder ein gutes Beispiel dafür, daß Sachbücher nicht langweilig oder öde sein müssen. (Was nicht heißt, daß der Autor hier weniger korrekt arbeitet, denn er liefert, wie es sich gehört, in den Fußnoten die genutzten Quellen, Auszüge der Originaltexte und zusätzliche Angaben.) Im ersten Teil, dessen italienisches Original als Essay etwa vier Jahre vor dem zweiten veröffentlicht wurde, nimmt der Autor das besonders bei Rechtspopulisten (aber auch Linkspopulisten) ach so beliebten Wurzelwerk von eigener Kultur, Identität, Überlieferungen und Traditionen auseinander. Um die Betrachtungsweisen von Kultur, Identität, Tradition und Geschichte dreht sich alles in diesem Buch: Die eine versteht beispielsweise den Begriff Kultur im Plural, als etwas Offenes, die andere im Singular, als Mittel der Abschottung. Zunächst widmet sich der Autor ausführlich der in einem engen Bereich "verwurzelten" Sichtweise. Er zeigt die Grundlagen und Schwachpunkte dieser Sichtweise, seien es die Wurzeln von unten oder als alternatives Bild mit gleicher, beschränkender Weltsicht, die Abstammungen von kulturellen Bergeshöhen, auf und wie sie eingesetzt werden, um die eigene Region, die eigene Kultur als abgeschlossenes, System darzustellen, das es gilt vor allen anderen Kulturen abzuschotten. Dieser vertikalen Sichtweise von Geschichte und Kultur als Fundament der eigenen Identität setzt er eine horizontale entgegen, sieht die Entwicklung der Kultur(en) statt des stationären, abgeschlossenen Wurzelsystems, das angeblich der eigenen Kultur zugrundeliegt, lieber als einen Fluß, der von vielen verschiedenen Quellen gespeist wird, die sich zu einem neuen Ganzen vermischen und ständig in Bewegung ist. Er zeigt auf, wie schon neben den ortsansässigen Märchen der Gebrüder Grimm auch die fremden Märchen aus 1001 Nacht, die Odyssee und viele andere unsere Kultur bereichert haben. Er zeigt aber auch an Beispielen, wie die Metaphern und Bilder konstruiert und genutzt werden, um bestimmte Sichtweisen und Autoritäten aufzubauen und zu stärken. Und er zeigt auf, daß es durchaus nicht selten ist, daß auch Traditionen konstruiert, Traditonen durch Schulen und Medien vermittelt werden oder Erinnerungen und Traditionen sogar völlig neu (re)konstruiert wurden und keineswegs so weit zurückreichen, wie man annehmen könnte (und es gelehrt und vermittelt wird). Dabei erfährt der Leser beispielsweise von konstruierten Vergangenheiten, an denen er oder sie sie wohl nicht vermutet hätte. Da wurden beispielsweise die Verbindungen zu den Orten, an denen gemäß der Bibel das Wirken Jesu stattgefunden haben soll, erst Jahrhunderte später "konstruiert" und Ereignisse seines Lebens wie Geburt oder Geißelung, so wie es den Konstrukteuren der Vergangenheit in den Kram paßte, nachträglich mit bestimmten Stätten verknüpft. Da es sich um ein italienisches Essay handelt, sind natürlich viele der Beispiele aus der italienischen Region genommen, wie etwa die Rekonstruktion der Erinnerung und Tradition auch am traditionellen Pferderennen Palio von Siena verdeutlicht wird, dessen ursprüngliche, mittelalterliche, Traditionen heute längst durch modernere (meist aus dem 18 Jahrhundert stammende) ersetzt worden sind - und doch als traditionsreich und altehrwürdig angesehen wird. Während die konstruierte Erinnerung und Tradtion bei diesem Pferderennen keine größeren Auswirkungen hat, führt sie in anderen Bereichen zu schwerwiegenderen Folgen - bis hin zu Unverträglichkeiten zwischen verschiedenen angeblich "traditionellen" Gruppen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Ein krasses Beispiel für die verheerenden Folgen einer konstruierten Tradtion und Vergangenheit, sind die Zustände in Ruanda, von den unsere modernen Medien immer gerne als Stammeskonflikte zwischen den ethnischen Gruppen der Tutsi und Hutu berichten. Nur daß die Hutu und Tutsi gar keine getrennten ethnischen Stämme waren, ja kaum voneinander zu unterscheiden waren und über Jahrhunderte friedlich im selben Territorium zusammenlebten. Bis die europäischen Missionare und Kolonialmächte kamen und Vergangenheiten konstruierten, die schließlich darin gipfelten, die Bevölkerung nach der Anzahl der Rindviecher, die sie besaßen, in die "ethnischen Gruppen" der Tutsi und Hutu einzuteilen und entsprechende Ausweise zu verteilen anhand derer noch heute zwischen freund und Feind unterschieden wird. Diese erfundene, willkürliche Trennung und von den Kolonialmächten konstruierte Vergangenheiten (wie arische Herkunft der einen etc.) liegt den bis heute anhaltenen blutigen Kriegen und Massakern zwischen zwei ethischen Gruppen zugrunde, die eigentlich nie zwei ethnische Gruppen gewesen waren (auch wenn unsere Medien das gerne behaupten, wird es nicht wahrer). Im einige Jahre später entstandenen zweiten Teil des Buches, nimmt der Autor Stellung zu Fragen seiner Freunde zum Essay und steuert einige persönlichere An- und Einsichten auf Kultur, Tradition und Veränderungen in seiner eigenen Umgebung bei. Anschließend vertieft und aktualisiert er die Erläuterungen zum Wurzelbild und damit den abschottenden oder weltoffenen Sichten auf die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft - meist am Beispiel Italiens und der Liga Nord als Anwender der abschottenden Wurzel-Weltsicht. Und zum großen Erstaunen der italienischen Ablehner der Ehe für Alle und Schützer des italienischen Sonderfalles zum Schutze und Verteidigung seiner kulturellen Wurzeln, erfährt der Leser, daß in Italien bereits vor 400 Jahren "Mann und Mann nach den Ritualen der katholischen Kirche" verheiratet (allerdings von den traditionellen Priestern dann auch auf dem Scheiterhaufen ermordet) wurden. Auch wird in diesem zweiten Teil des Buches ein Blick auf die hellenischen, kulinarischen und christlichen Wurzeln geworfen - und wohin die verwurzelte Einengung auf die eigene Region, den eigenen Glauben, die eigene Weltsicht die eigene Intoleranz und Beschränktheit führen können und heute in vielen Teilen Europas führen. Dagegen ist dieses Buch ein gut begründetes, verständliches und leicht lesbares Pladoyer für den Plural der Kulturen, die horizontale Sicht auf unsere Geschichte und Tradition, die sich wie wie ein Fluß im Laufe der Jahrhunderte aus vielen verschiedenen Quellen gespeist hat. Oder wie es Michel de Montaigne formulierte: "Wenn ich mich an eine bestimmte Verhaltensweise gebunden fühle, zwinge ich sie deswegen nicht, wie jeder es mit der seinen tut, aller Welt auf; ich kann mir tausende von entgegengesetzten Lebensformen vorstellen und sie für gut befinden." Für uns ist dieses MiniBuch auf jeden Fall lesenswert und ein Tip.
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