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Peter Matthews:

Es lebe die Moderne Wohnkultur ...

 

 

Copyright 1989/2010 by Author. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Weiterverbreitung auch teilweise ohne schriftliche Genehmigung untersagt. Nachdruck und Weitergabe

 

"Die neu errichtete Ansiedlung ,Neue Wohnkultur' ist ein revolutionäres Bauwerk in der Geschichte menschlichen Wohnens. Es macht die Menschen glücklich, in einer so1chen Stadt im Grünen zu leben, die über solch eine Skyline verfügt wie die ,Neue Wohnkultur'. Die ,Neue Wohnkultur' ist ein Beispie1 für menschenfreundliches (humanes) Bauen.

Ausgedehnte Parkanlagen lockern das Bild der verschiedenartigen Wohnhaustypen angenehm auf.

Die günstigen Verkehrs-Verbindungen kommen den Bewohnern sehr zugute. In nur fünf Minuten erreichen sie mit ihrem PKW die Stadtmitte. Das Siedlungs-interne Nahverkehrssystem ist an das Fernstreckennetz angeschlossen.

Eine Vielzahl von unfallsicheren Spielplätzen ist so angelegt, daß Sie Ihre Kleinen stets beobachten können, und bietet ungezählte Spielmöglichkeiten.

Die zentral gelegenen Freizeit-Einrichtungen sind in Kürze zu erreichen.

Zum Projekt gehören eine Schule, ein Kinderhort, ein Einkaufszentrum sowie diverse Soziale Einrichtungen."

* * * *


So hatte es der Werbesprospekt der ,Neue-Wohnkultur-WohnungsbauAG' jedenfalls versprochen; mit vielen farbigen Fotos aus aller Welt. Und wie jeder weiß, steht in derartigen Prospekten keinesfalls die Unwahrheit - die unangenehmen Wahrheiten sind lediglich etwas unglücklich formuliert. Versehentlich, versteht sich.


* * * *


Auch Frau Gerda und Herr Peter Meyer wollten den Schritt in eine humane Zukunft wagen. So hinterließen sie ihre unschuldigen Eltern im
familieneigenen Einfamilienhaus und riefen sich die mannigfachen Vorteile einer Gemeinschaftswohnanlage in Erinnerung.

"Im Hochhaus haben wir eine gemeinsame Waschanlage, die zwischenmenschliche Kommunikation erhält neuen Auftrieb," ließ sich Gerda vernehmen.
"Ja, und beim Bau von mehrgeschossigen Wohnpalästen wird so viel Platz gespart, daß großzügige Parkanlagen geschaffen werden können. Außerdem ergeben die terrassenförmig ansteigenden Baukunstwerke eine interessante Silhouette," ergänzte Peter.

So hatten sie sich denn mit dem - wie man den Meyers bescheinigen muß - hervorragend auswendig gelernten Werbe-Wissen aufgemacht, um dieses neue Wunder der Zivilisation in Augenschein zu nehmen.
Aus dem Radio klangen Takte von Rudi Carell's ,Mein Dorf, was ist aus dir geworden?', dessen Text die Meyers geflissentlich überhörten.
"...und vom Klo im siebten Stock schweift der Blick in ungeahnte Fernen. . . "
Die Meyers kurvten durch den engen Stadtkern und schleusten sich schließlich auf die neue Nord-Tangente ein, eine vierspurige Zubringerstraße für die nördlichen Vororte.
"...und auch auf meiner Lieblingswiese entstand ein Hochhaus über Nacht. Mein Dorf, was ist aus dir geworden - was hat man bloß aus dir gemacht?"

"Was, Gerda, daß unsere alte Mühle noch ihre 135 bringt, hättest du nicht gedacht?" erkundigte sich Peter durch den Lärm des hochdrehenden Motors.
Mit immerhin noch 95 km/h bog der Wagen mit den Wohnkultouristen in die Abfahrt mit der Bezeichnung

"Neue Wohnkultur
Auf der grünen Wiese, Nachtigallenweg,
Waldweg, Am Eichenwald, Zu den Buchen"

ein, die immerhin noch auf einen dreispurigen Zubringer führte, von dem nacheinander die Wohngebiete abzweigten.
"So, das war die Waldweg-Abfahrt; die nächste müssen wir runter. Ah, da ist sie schon!"

Der Wagen donnerte die Abfahrt ,Am Eichenwald' herunter und stieß hinter der Krümmung erneut auf eine zweispurige Autostraae, von der in regelmäßigen Abständen Abfahrten abzweigten. Endlich war die Abfahrt

,Am Eichenwald 1 -18'


erreicht, und hinter der Biegung mußte Peter den Wagen auf 80 Kilometer in der Stunde zügeln. "Peter, war da nicht ein Schild, das 30 km/h anordnete?" "Na und? Dies ist eine Schnellstraße, zweispurig, wie du siehst. Übrigens beginnt hier das Wohngebiet. Dort drüben müßte man gleich das Einkaufszentrum sehen können."
"Ich sehe nur einen Straßenverkaufswagen und einen Betonmischer - halt, warte! Hier steht's ja:

,Hier baut die Neue-Wohnkultur-Wohnungsbau AG ein modernes Groß-Einkaufszentrum'


- WAS MACHT DENN DER???"

Zu Recht erregte sich Gerda über das Verhalten eines etwa achtjährigen Knaben, der sich erdreistete, eine der ,ausgedehnten Rasenflächen' zu betreten, obwohl dazu wirklich keine Notwendigkeit bestand. Zwar war die Rasenfläche bestimmt mehr als 200 Meter lang, jedoch höchstens fünfzehn Zentimeter breit.
"Siehst du, wenn hier mal was passiert, kann der Rettungswagen direkt vor's Haus fahren, und die Rettungshubschrauber können auf der breiten Bahn direkt am Unfallort landen. So werden kostbare Sekunden gespart."
"Welchen Effekt man dadurch vergrößert, daß man das hiesige Klein-Krankenhaus zugunsten eines vierzig Kilometer entfernten Groß-Klinikums geschlossen hat. Das ist dieselbe Argumentation, als wärest du einem der großen Chemiekonzerne, die unsere Luft so ungemein anreichern, dafür dankbar, daß er ein Zehntel seines Reingewinns steuerabzugsfähig für Umweltschutzmaßnahmen ausgibt."
"Das kannst du doch gar nicht miteinander vergleichen! An den geringen Mengen fast ungiftiger und so gut wie geruchsneutraler Gasaustritte ist noch niemand gestorben, an einem zu spät gekommenen Rettungswagen schon viele!" "Naja, es gibt keine Krankheit, die nicht unter Hinzuziehung eines Arztes zum Tode führen könnte. Aber meinst du nicht, daß diese Häuser zu nahe an der Straße stehen?"
"Ach, Unsinn! Da sieh: zwischen Fußweg, Radweg, Spielplatz und der Straße ist ein Zaun gespannt. Es kann also gar nichts passieren!"
"Über den Zaun springt sogar unser Meerschweinchen!" Gerda war nun schon etwas verärgert.
"Der Zaun ist auch nur symbolisch gemeint."
"So, und wegen dieses symbolischen Zeichens können die Kinder nicht auf die Straße und unter die Räder geraten, wie?"

So rasten sie weiterhin mit 95 kmth über die zweispurige Anliegerstraße ihrem neuen Heim entgegen. Als sie die Hausnummer 17 passierten, kamen Gerda erste, aber ernste Bedenken.
"Du, sieh mal, da stehen ja Wolkenkratzer, einer größer als der andere. Igitt, sind die häßlich."

Als unbelasteter Beobachter erinnern wir uns des Prospektes, der angedroht hatte:
"Außerdem ergeben die terrassenförmig ansteigenden Baukunstwerke eine interessante Silhouette."

Meyers hatten nunmehr die Einfahrt mit der (grünen, mit Blüten verzierten) Hinweistafel

,Am Eichenwald 18'

erreicht, und schon wenig später teilte sich die Straße.
"Huch, da vorne teilt sich die Straße, eas steht denn da auf dem Schild?

,Parkanlagen - rechts einordnen
Wendekreis - links einordnen'

Wir fahren links ab und parken im Wendekreis. Den Park sehen wir uns später an," entschied Peter.
"Du, sind hier nur Hochhäuser?"
"Natürlich nicht, Dummerchen. Außerdem, was sind schon lächerliche 20 Stockwerke. - Sch... - hier im Wendekreis ist Parkverbot, wo soll ich den Wagen jetzt abstellen?"

Peter kurbelte das Seitenfenster herunter und rief einen der drei strategisch günstig in der Siedlung verteilten Passanten an. Zwei von ihnen trugen grüne (der vorbelastete Beobachter würde wohl mittlerweile von giftgrünen sprechen) Overalls mit der Aufschrift
,NWW-AG - wir machen aus Beton Ihr Zuhause' oder so ähnlich.
Der dritte wandte sich um und kam durch aufgeweichte Wege zum Wagen der Meyers gewatet. Es handelte sich um einen der - wie sich herausstellte - ,bestausgebildetsten Wohnbauspezialisten aus aller Welt, die exklusiv fur die NWW-AG in Deutschland ihre heimatlichen SpeziaUirmen verlassen haben.'
"Wo du können parken? Du gekommen da? Nix gesehen Schild?"
"Was für'n Schild? Da war'n doch bloß zwei; das eine für den Wendekreis, das andere für die Parks."
Der Mann schüttelte seinen Kopf wie ein südamerikanischer Bar-Mixer seinen Becher und berichtigte:
"Nix Parks - Park-Anlagen für Auto abstellen - du versteh?"
Peter war inzwischen soweit, entweder alles oder gar nichts mehr zu verstehen, versäumte dem Manne zu danken und fuhr zum Wendekreis hinaus. Er stellte seinen Wagen auf einen der weiß-markierten Plätze eines etwa 150 mal 150 Meter durchmessenden Betonquadrates. Fast leer, denn noch zwei weitere giftgrüne Fahrzeuge waren dort-selbst abgestellt, und beide trugen, wir ahnen es schon, die gleiche Aufschrift:

,Neue Wohnkultur Wohnungsbau-AG - wir machen aus jedem Zustand ein Zuhause'


oder so ähnlich.

Meyers verließen ihren Wagen und kamen am Ende des Parkplatzes zu dem gigantischen Abenteuerspielplatz mit den zahllosen drei Klettergerüsten und den ungezählten Bohrungen für die irgendwann entstehenden anderen Geräte. Dahinter erstrahlte das Grau (es war ein Grün-Grau) eines der kleineren Wohnhaustypen. Er konnte nur 14 Stockwerke aufweisen. Durch die zukünftigen Fußwege wateten sie ihrer künftigen Heimat zu. Dieser elegante Bau in der Form eines geduckt lauernden Dinosauriers schmiegte sich mit lächerlichen neunzehn Etagen unauffällig in die Landschaft ein.

"Was sind denn das für Löcher da drüben?" fragte Gerda.
Ein Wohnungsbauspezialist, der zufällig in der Nähe gewesen war (irgendwo muß auch der Autor seine Informanten herzaubern), hatte ihre Frage gehört und gab bereitwillig Antwort:
"Das dort werden die Tiefgaragen, und dort drüben entsteht, wenn das Wasser abgepumpt und der Sand abgetragen ist, der U-Bahn-Schacht. Zum Busbahnhof gehen Sie nur um die Ecke. Wenn es regnen sollte, können Sie unter dem Vordach auf den Bus warten. Es ist alles sehr genau geplant worden."
Wenige Wochen später bezog die Familie Meyer ihre neue Heimat. Bereits am ersten Tag kam Thomas überraschend früh vom Spielen nach oben, ziemlich sauer.
"Was hast du denn, Thomas? Ich dachte, du wolltest unten spielen, bis es dunkel wird?" erlcundigte sich Gerda etwas besorgt.
"Mit dem dämlichen Sandkasten kann man überhaupt nichts anfangen, und der Boden, der zittert immer so, wenn man drüber geht, und Häuser und Burgen und so was kann man gar nicht bauen und im Aufzug komm ich gar nicht an die 19 ran und muß über die Treppe nach oben," sprudelte es aus ihm hervor, "ich will zurück zur Omi, da hab ich wenigstens den Garten!"
Frau Meyer hatte die erfolglosen Bemühungen ihres Sohnes mittels ihres Fernglases natürlich beobachtet. Ohne dieses konnte man lediglich das nahegelegene Automobilwerk bewundern.

Zu erwähnen wären vielleicht noch die "differenzierten Freizeitmöglichkeiten". Man konnte nämlich Ball spielen oder Ball spielen oder sogar Ball spielen. Allerdings wollen wir nicht verschweigen, daß man auch den Arbeitern zusehen konnte, die am Rande der Siedlung am Freizeitzentrum arbeiteten. Der Grundstein für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung jedenfalls war gelegt. Mit der Fertigstellung war etwa in fünf Jahren zu rechnen.

Wie gesagt, Prospekte lügen nicht...

E N D E


 


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