So hatte es der Werbesprospekt der ,Neue-Wohnkultur-WohnungsbauAG'
jedenfalls versprochen; mit vielen farbigen Fotos aus aller Welt. Und
wie jeder weiß, steht in derartigen Prospekten keinesfalls die
Unwahrheit - die unangenehmen Wahrheiten sind lediglich etwas
unglücklich formuliert. Versehentlich, versteht sich.
* * * *
Auch Frau Gerda und Herr Peter Meyer wollten den Schritt in eine
humane Zukunft wagen. So hinterließen sie ihre unschuldigen Eltern im
familieneigenen Einfamilienhaus und riefen sich die mannigfachen
Vorteile einer Gemeinschaftswohnanlage in Erinnerung.
"Im Hochhaus haben wir eine gemeinsame Waschanlage, die
zwischenmenschliche Kommunikation erhält neuen Auftrieb," ließ sich
Gerda vernehmen.
"Ja, und beim Bau von mehrgeschossigen Wohnpalästen wird so viel
Platz gespart, daß großzügige Parkanlagen geschaffen werden können.
Außerdem ergeben die terrassenförmig ansteigenden Baukunstwerke
eine interessante Silhouette," ergänzte Peter.
So hatten sie sich denn mit dem - wie man den Meyers bescheinigen
muß - hervorragend auswendig gelernten Werbe-Wissen aufgemacht,
um dieses neue Wunder der Zivilisation in Augenschein zu nehmen.
Aus dem Radio klangen Takte von Rudi Carell's ,Mein Dorf, was ist aus
dir geworden?', dessen Text die Meyers geflissentlich überhörten.
"...und vom Klo im siebten Stock schweift der Blick in ungeahnte Fernen.
. . "
Die Meyers kurvten durch den engen Stadtkern und schleusten sich
schließlich auf die neue Nord-Tangente ein, eine vierspurige
Zubringerstraße für die nördlichen Vororte.
"...und auch auf meiner Lieblingswiese entstand ein Hochhaus über
Nacht. Mein Dorf, was ist aus dir geworden - was hat man bloß aus dir
gemacht?"
"Was, Gerda, daß unsere alte Mühle noch ihre 135 bringt, hättest du
nicht gedacht?" erkundigte sich Peter durch den Lärm des
hochdrehenden Motors.
Mit immerhin noch 95 km/h bog der Wagen mit den Wohnkultouristen in
die Abfahrt mit der Bezeichnung
"Neue Wohnkultur
Auf der grünen Wiese, Nachtigallenweg,
Waldweg, Am Eichenwald, Zu den Buchen"
ein, die immerhin noch auf einen dreispurigen Zubringer führte, von dem
nacheinander die Wohngebiete abzweigten.
"So, das war die Waldweg-Abfahrt; die nächste müssen wir runter. Ah,
da ist sie schon!"
Der Wagen donnerte die Abfahrt ,Am Eichenwald' herunter und stieß
hinter der Krümmung erneut auf eine zweispurige Autostraae, von der in
regelmäßigen Abständen Abfahrten abzweigten. Endlich war die Abfahrt
,Am Eichenwald 1 -18'
erreicht, und hinter der Biegung mußte Peter den
Wagen auf 80 Kilometer in der Stunde zügeln. "Peter, war da nicht ein
Schild, das 30 km/h anordnete?" "Na und? Dies ist eine Schnellstraße,
zweispurig, wie du siehst. Übrigens beginnt hier das Wohngebiet. Dort
drüben müßte man gleich das Einkaufszentrum sehen können."
"Ich sehe nur einen Straßenverkaufswagen und einen Betonmischer -
halt, warte! Hier steht's ja:
,Hier baut die
Neue-Wohnkultur-Wohnungsbau AG ein modernes Groß-Einkaufszentrum'
- WAS MACHT DENN DER???"
Zu Recht erregte sich Gerda über das Verhalten eines etwa achtjährigen
Knaben, der sich erdreistete, eine der ,ausgedehnten Rasenflächen' zu
betreten, obwohl dazu wirklich keine Notwendigkeit bestand. Zwar war
die Rasenfläche bestimmt mehr als 200 Meter lang, jedoch höchstens
fünfzehn Zentimeter breit.
"Siehst du, wenn hier mal was passiert, kann der Rettungswagen direkt
vor's Haus fahren, und die Rettungshubschrauber können auf der breiten
Bahn direkt am Unfallort landen. So werden kostbare Sekunden gespart."
"Welchen Effekt man dadurch vergrößert, daß man das hiesige Klein-Krankenhaus zugunsten eines vierzig Kilometer entfernten
Groß-Klinikums geschlossen hat. Das ist dieselbe Argumentation, als
wärest du einem der großen Chemiekonzerne, die unsere Luft so
ungemein anreichern, dafür dankbar, daß er ein Zehntel seines
Reingewinns steuerabzugsfähig für Umweltschutzmaßnahmen ausgibt."
"Das kannst du doch gar nicht miteinander vergleichen! An den geringen
Mengen fast ungiftiger und so gut wie geruchsneutraler Gasaustritte ist
noch niemand gestorben, an einem zu spät gekommenen Rettungswagen
schon viele!" "Naja, es gibt keine Krankheit, die nicht unter
Hinzuziehung eines Arztes zum Tode führen könnte. Aber meinst du
nicht, daß diese Häuser zu nahe an der Straße stehen?"
"Ach, Unsinn! Da sieh: zwischen Fußweg, Radweg, Spielplatz und der
Straße ist ein Zaun gespannt. Es kann also gar nichts passieren!"
"Über den Zaun springt sogar unser Meerschweinchen!" Gerda war nun
schon etwas verärgert.
"Der Zaun ist auch nur symbolisch gemeint."
"So, und wegen dieses symbolischen Zeichens können die Kinder nicht
auf die Straße und unter die Räder geraten, wie?"
So rasten sie weiterhin mit 95 kmth über die zweispurige
Anliegerstraße ihrem neuen Heim entgegen. Als sie die Hausnummer 17
passierten, kamen Gerda erste, aber ernste Bedenken.
"Du, sieh mal, da stehen ja Wolkenkratzer, einer größer als der andere.
Igitt, sind die häßlich."
Als unbelasteter Beobachter erinnern wir uns des Prospektes, der
angedroht hatte:
"Außerdem ergeben die terrassenförmig ansteigenden Baukunstwerke
eine interessante Silhouette."
Meyers hatten nunmehr die Einfahrt mit der (grünen, mit Blüten
verzierten) Hinweistafel
,Am Eichenwald 18'
erreicht, und schon wenig später teilte sich die Straße.
"Huch, da vorne teilt sich die Straße, eas steht denn da auf dem Schild?
,Parkanlagen - rechts einordnen
Wendekreis - links einordnen'
Wir fahren links ab und parken im Wendekreis. Den Park sehen wir uns
später an," entschied Peter.
"Du, sind hier nur Hochhäuser?"
"Natürlich nicht, Dummerchen. Außerdem, was sind schon lächerliche
20 Stockwerke. - Sch... - hier im Wendekreis ist Parkverbot, wo soll ich
den Wagen jetzt abstellen?"
Peter kurbelte das Seitenfenster herunter und rief einen der drei
strategisch günstig in der Siedlung verteilten Passanten an. Zwei von
ihnen trugen grüne (der vorbelastete Beobachter würde wohl
mittlerweile von giftgrünen sprechen) Overalls mit der Aufschrift
,NWW-AG - wir machen aus Beton Ihr Zuhause' oder so ähnlich.
Der dritte wandte sich um und kam durch aufgeweichte Wege zum
Wagen der Meyers gewatet. Es handelte sich um einen der - wie sich
herausstellte - ,bestausgebildetsten Wohnbauspezialisten aus aller
Welt, die exklusiv fur die NWW-AG in Deutschland ihre heimatlichen
SpeziaUirmen verlassen haben.'
"Wo du können parken? Du gekommen da? Nix gesehen Schild?"
"Was für'n Schild? Da war'n doch bloß zwei; das eine für den
Wendekreis, das andere für die Parks."
Der Mann schüttelte seinen Kopf wie ein südamerikanischer Bar-Mixer
seinen Becher und berichtigte:
"Nix Parks - Park-Anlagen für Auto abstellen - du versteh?"
Peter war inzwischen soweit, entweder alles oder gar nichts mehr zu
verstehen, versäumte dem Manne zu danken und fuhr zum Wendekreis
hinaus. Er stellte seinen Wagen auf einen der weiß-markierten Plätze
eines etwa 150 mal 150 Meter durchmessenden Betonquadrates. Fast
leer, denn noch zwei weitere giftgrüne Fahrzeuge waren dort-selbst
abgestellt, und beide trugen, wir ahnen es schon, die gleiche Aufschrift:
,Neue Wohnkultur Wohnungsbau-AG - wir machen aus jedem Zustand ein
Zuhause'
oder so ähnlich.
Meyers verließen ihren Wagen und kamen am Ende des Parkplatzes zu
dem gigantischen Abenteuerspielplatz mit den zahllosen drei
Klettergerüsten und den ungezählten Bohrungen für die irgendwann
entstehenden anderen Geräte. Dahinter erstrahlte das Grau (es war ein
Grün-Grau) eines der kleineren Wohnhaustypen. Er konnte nur 14
Stockwerke aufweisen. Durch die zukünftigen Fußwege wateten sie
ihrer künftigen Heimat zu. Dieser elegante Bau in der Form eines
geduckt lauernden Dinosauriers schmiegte sich mit lächerlichen
neunzehn Etagen unauffällig in die Landschaft ein.
"Was sind denn das für Löcher da drüben?" fragte Gerda.
Ein Wohnungsbauspezialist, der zufällig in der Nähe gewesen war
(irgendwo muß auch der Autor seine Informanten herzaubern), hatte
ihre Frage gehört und gab bereitwillig Antwort:
"Das dort werden die Tiefgaragen, und dort drüben entsteht, wenn das
Wasser abgepumpt und der Sand abgetragen ist, der U-Bahn-Schacht.
Zum Busbahnhof gehen Sie nur um die Ecke. Wenn es regnen sollte,
können Sie unter dem Vordach auf den Bus warten. Es ist alles sehr
genau geplant worden."
Wenige Wochen später bezog die Familie Meyer ihre neue Heimat.
Bereits am ersten Tag kam Thomas überraschend früh vom Spielen nach
oben, ziemlich sauer.
"Was hast du denn, Thomas? Ich dachte, du wolltest unten spielen, bis
es dunkel wird?" erlcundigte sich Gerda etwas besorgt.
"Mit dem dämlichen Sandkasten kann man überhaupt nichts anfangen,
und der Boden, der zittert immer so, wenn man drüber geht, und Häuser
und Burgen und so was kann man gar nicht bauen und im Aufzug komm
ich gar nicht an die 19 ran und muß über die Treppe nach oben,"
sprudelte es aus ihm hervor, "ich will zurück zur Omi, da hab ich
wenigstens den Garten!"
Frau Meyer hatte die erfolglosen Bemühungen ihres Sohnes mittels
ihres Fernglases natürlich beobachtet. Ohne dieses konnte man lediglich
das nahegelegene Automobilwerk bewundern.
Zu erwähnen wären vielleicht noch die "differenzierten
Freizeitmöglichkeiten". Man konnte nämlich Ball spielen oder Ball
spielen oder sogar Ball spielen. Allerdings wollen wir nicht
verschweigen, daß man auch den Arbeitern zusehen konnte, die am
Rande der Siedlung am Freizeitzentrum arbeiteten. Der Grundstein für
eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung jedenfalls war gelegt. Mit
der Fertigstellung war etwa in fünf Jahren zu rechnen.
Wie gesagt, Prospekte lügen nicht...
E N D E
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