Bücherbar-Storybar

 

Peter Matthews:

Das Pannas-Syndrom

Kapitel 1

 

Copyright 1989/2010 by Author. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Weiterverbreitung auch teilweise ohne schriftliche Genehmigung untersagt. Nachdruck und Weitergabe

 

0.

Einweisung

Haben Sie vielleicht schon einmal etwas von Pannas gehört? Nicht? Das trifft sich gut. Ich möchte Ihnen nämlich heute eine kleine Geschichte erzählen, die dieses Däffezitt Ihrer Bildung umgehend auflösen wird. Begleiten Sie also unsere Akteure in die Welt von Bazillen und Bakterien, Ärzten, Kranken- und gesunden Schwestern, gestressten Pflegern und gehen mit einem Professor auf medizinische Entdeckungsreise ...

Unsere Geschichte um die ungeheuere Entdeckung beginnt in einer kleinen Stadt im Oberbergischen Land. Wie diese Stadt heißt? Das ist eigentlich völlig unwichtig, aber da das Kind einen Namen benötigt, werden wir uns wohl einigen können. Was halten Sie beispielsweise von Bergisch Gladbeck? Nicht gut? Sie haben recht. Halt, ich habe es! Die Stadt, in der unsere Geschichte ihren ganz normalen Anfang nimmt, nennen wir ganz schlicht und ergreifend Berg-Neustadt

Hier ist auch eine soziale Einrichtung ansässig, in der unter freundlich kameradschaftlicher Leitung durch Johannes Hering mehrere Zivildienstleistende ihren sonnigen Dienst verbringen. Als ehemaliger Steuerbeamter ist Hering der Ansicht, daß kleine Fehlentscheidungen kaum der Rede wert seien und seine grundliberale Lebenseinstellung läßt sich in dem Satz zusammenfassen: "Das einzige, was hier Gewicht hat, bin ich! " Und dem können weder die Zivis noch Harry Leopold ernsthaft widersprechen ...

I.

Wasser- und andere Massen

Es war ein Sommerabend. Um es genau zu sagen: Es war ein typisch deutscher Hochsommerabend; der krönende Abechluß eines prägnant-markanten deutschen Hochsommertages. Alle Schleusen des Himmels waren geöffnet – ebenso wie die sub-ventionshungrigen Taschen unserer notleidenden Landbevölkerung, die sich momentan kaum mehr den Diesel für ihre 240er Landfahrzeuge leisten konnte.

In seinem kleinen Einfamiliensilo (Marke "Quadro ") stierte Johannes Hering interessiert auf die herabströmenden Wassermassen. Aus dem Hintergrund ließ sich eine quakende, von atmosphärischem Krachen unterbrochene Stimme vernehmen, die einen überfluteten Keller meldete. Ein hoffnungsfrohes Grinsen glitt uber das feiste fettglänzende Gesicht. Er wandte sich vom Fenster ab und setzte sich – nein, richtiger hieße es: Er ließ seine ungeheuren Massen auf das arme unschuldige Sofa fallen, das protestierend gegen diese Mißhandlung aufquietschte. Aber darauf pflegte Johannes Hering keine Rücksicht zu nehmen. Weder bei Sachen, noch bei Menschen. Er fühlte sich nur wohl, wenn bei seinem Auftreten alles erzitterte. Und das war kein Kunstshick – bei seinem Gewicht.

Während seine Frau, eine zierliche Person (den Aberglauben von der herausgeschnittenen Rippe darstellend) den uberladenen Abendbrot-Tisch abräumte und die Kinder zu Bett brachte, widmete sich Hering wieder seinen Funkgeräten. "Herings-Heim-Funk", wie die vier Geräte im, trauten Heim des S.U.D.-Chefs in Insiderkreisen hießen, lief die ganze Nacht durch. Schlaf kannte der unermüdliche Brötchenvernichter zu keiner Zeit. Stets war er bereit, für sich und seine Organisation Transporte herauszuholen, die er meist großzügig an seine Mitarbeiter weitergab. Sollte doch einmal das Unglück geschehen, daß Hering in sanften Schlummer herabsank und Sherwood Forest in Zahnstocher verwandelte – für diesen Fall war das Schlafzimmer-Gerät mit einer Heim-Sirene und einem Blaulicht ausgestattet … "Florian Neustadt 34/42 von Einsatzzentrale kommen!"

Hering rückte näher an das Gerät, das diese Meldung hervorgequäkt hatte. Seine Stirn legte sich in Speckrollen.

"Florian Neustadt 34/42 von Einsatzzentrale kommen!"

Doch entweder gab es in der Feuerwache ein besserees Hörfunkprogramm, oder aber die Wache wachte nicht. Tztztz. Hering wälzte sich in Position, zerdrückte ein unschuldiges Mikrofon zwischen seinen Klauen und blökte in das Gerät.

***

"Einsatzzentrale von Soli Neustadt 007 kommen!!"

knarrte es aus dem Lautsprecher der Einsatzzentrale. Ängstlich sahen sich die beiden Beamten nach einem Rettungsweg um. Vergebens.

Es gab kein Entkommen.

"Du, ich müßte mal ganz schnell nach draußen ..."

versuchte Klaus Mallein seine geistige Gesundheit aus der Affaire zu ziehen.

"Okay!" sagte sein Kollege und erhob sich. "Ich kommen mit."

Jetzt war es an Mallein, sich zu wundern.

"Wer soll denn dann die Rettungseinsätze leiten?"

"Herings-Heim-Funk, der weiß doch sowieso alles besser als Unsereiner. Und wenn Du jetzt nicht antwortest, klingelt der den Kreisdirektor aus dem Bett und macht ihm klar, daß nach Paragraph sowieso ..."

Weiter sollte er nicht kommen, denn Hering säuselte bereits wieder mit dem Charme einer nordamerikanisohen Sumpfschildkröte durch den Äther.

"Einsatzzentrale von Soli 007, kommt endlich!!"

Todesverachtend ließ sich Klaus Mallein vom den Funkpult der Rettungsleitstelle nieder.

"Du weist, wen du im Falle meines Ablebens benachrichtigen mußt?"

"Klar, den Solitair-Unfall-Dienst!"

Für einen Moment schien es so, als wolle sich Klaus auf seinen Kollegen stürzen – und das nicht aus lauter Liebe und Anhänglichkeit. Doch dann besann er sich seines Status' als Beamter und nahm seine Tätigkeit wieder auf.

"Hier ist die Einsatz-Zentrale Berg-Neustadt, Soli 007, kommen Sie."

Der Leithammel schüttelte sich, als hätte er Kontakt mit einem süßen kleinen polaren Gletscher aufgenommen. Und der gletscherte auch gleich daruf los:

"Esch wollt' esch dran erinnern, dat wir mit unseren zwei Fahrzeujen laut Parajraf siebenundsechzisch von Esch porzential belegt werden mössen. Ihr künt mäsch anpiepsen, wenn er ons braucht. Ende."

Die beiden Beamten in der Einaatzzentrale hatten aufmerksam dagesessen und waren von der prägnanten Kürze, die Herings Durchsage an diesem Abend auszeichnete, völlig überrascht. Klaus Mallein unterbrach seine biologischen Experimente über die Widerstandkraft einer Drosophila, die böse summend in höhere Zimmerregionen floh und meinte zu seinem telefonierenden Kollegen:

"Wenn wir ihn nicht hätten, könnten wir glatt dichtmachen."

Günther Alberts nickte nur, führte sein Gespräch zu Ende und legte auf.

"Bitte, gib' unserem Null-Null sein Fläschchen, damit er heia heia machen kann."

Klaus Mallein dienstverpflichtete daraufhin eine Relaiskette – es hatte keine freiwilligen Meldungen für diese Aufgabe gegeben – und machte seine stark akzentuierte Durchsage.

"Hier ist die Einsatz-Zentrale Neustadt. Verstanden – ENDE!"

Aufatmend ließ er sich zurück in seinen Sessel sinken. Erlösung stand beiden im Gewicht geschrieben. Doch die Erlösung war nur von kurzer Dauer.

"Einsatz-Zentrale Berg-Neustadt, der Flerian 34/42 mit Notarzt aus zur Bärenstraße 3a, Vau-Uh. – Ähem. Ist die Fahrt alarmmäßig"?"

"Naturlich nicht, Florian 34/42," antwortete Gunther kopf-schüttelnd, "wir haben dem Patienten gesagt, er soll noch eben 'ne Tasche Kaffee trinken gehen, bevor er verblutet"

***

"Ah, Schwesterchen,"

Dr. Schärfner lächelte mit dem gesamten Zahnschmelz seines Chirurgengebisses.

"Verbringen wir mal wieder eine Nacht zusammen?"

So eindeutig, wie diese Worte in Ihren Augen geklungen haben mögen, so waren sie auch gemeint.

"Aber, Herr Doktor."

Schwester Martha kicherte standesgemäß über diesen grandiosen Scherz ihres Chefarztes. Nicht umsonat hieß Dr. Schärfner hier im Hause auch 'Mr. ARD'. Nicht, daß er das kernige Gebiß gehabt hätte, das ihm eine tragende Rolle im Mediodram Dallas gesichert hätte; nein, 'Mr. ARD' war lediglich der Meinung, daß ein guter Stoff nicht oft genug wieder-wieder-wieder-holt werden konnte. Und was gut war, das entschied – aber lassen wir das.

Wahrend Schwerster Martha ihre weiße Amtsrobe überstreifte und damit Sachkompetenz und Fachwissen, wiederholte Dr. Schärfner eine Nachricht, die ihm zu übermitteln aufgetragen worden war.

"Schwester Birgit hat mich gebeten, Sie daran zu erinnern die Begleitpapiere für .die Krankentransporte morgen vorzubereiten. Sie hat damit schon angefangen. Die Formulare sind im Ordner."

"Ja danke, Herr Doktor, ich weiß bescheid."

"Na mal sehen. Ich glaube kaum, daß wir in dieser Nacht viel Zeit bekommen werden. Bis gleich also."

"Bis gleich, Herr Doktor."

Verantwortungsgebeugt und dienstgestresst schlenderte Dr. Scharfner von dannen, den baldigen Urlaub vor Augen, der jeden Dienst erträglicher machte.

Nach einer ruhigen Nacht sah es in der Tat nicht aus. Bei dem Wetter würde es trotz der Abkühlung gegenüber den Tagestemperataren wohl eine heiße Nacht werden. Im allge-meinen gab es zwei Möglichkeiten, wie ein Nachtdienst in diesem Haus verlief: Entweder man kam um die Arbeit herum, oder man kam um vor Arbeit …

***

"Leitstelle Berg Neustadt, hier Florian Neustadt 24/42. Eine schwer verletzte Person aufgenommen, fahren St. Helenen Klinikum. Kommen."

"Hier Leitstelle, verstanden. Frage: Sollen wir jemanden verständigen? Kommen."

"Ja richtig Leitstelle. Verständigen Sie Chirurgie. Kommen."

"Leitstelle verstanden Ende."

Mit schnell rotierenden Blaulichtern raste der Rettungswagen durch die feuchte Nacht. Im Fond verseuchte der Notarzt das Leben des Patienten zu retten, der seine Fahrkünste über-und die Festigkeit einer Buche unterschätzt hatte.

Interessiert lauschte in seinem Spezialbett mit kreuzgespannten Platinmuffcn auch Johannes Hering den Meldungen des Rettungswagens. Schweiß perlte von seiner Stirn. Warum er so spät in der Nacht nicht schlief? Dumme Frage. Er war es der Position, die er ausfüllte schuldig, ständig über alles umfassend informiert zu sein. Außerdem war er schließlich im Katastrophenschutz tätig (– ob als Wiedergutmachung wissen wir nicht). Auf alle Fälle stand er mit jeder Faser seines umfassenden Körpers im Dienste der guten Sache. Und wenn Sie einmal mitrechnen, wie viele Fasern bei drei Zentnern Lebendgewicht zusammenkommen, dann können Sie sich die Begeisterung, die sein Erscheinen überall hervorrief, wohl plastisch vorstellen. Ja, die Begeisterung kannte keine Grenzen, sei es bei den Mitarbeiteren der von ihm geleiteten Dienststelle des S.U.D., sei es bei den Mitarbeitern der anderen Organisationen im Katastrophenschutz. Sie alle wußten gar nicht wohin (sie sich verziehen sollten, um von ihm nicht aufgespürt zu werden).

Zufällig fiel jetzt sein Blick auf die neben ihm liegende Frau. Schön war sie ja, aber woher kannte er sie nur? Egal. Wenn nur der Kataatrophenalarm ausgelöst werden würde. Das war im Moment seine größte Hoffnung. Wir können es an dieser Stelle jedoch getrost vorwegnehmen: Er hoffte in dieser Nacht vergebens. Doch einen kleinen Erfolg erzielte Hering in dieser Nacht. Ihm fiel nämlich wieder ein, wer die Frau neben ihm war. Es war die Mutter seiner Kinder, die Tochter seiner Schwiegermutter, seine Frau. Er nahm sich vor, morgen einen Tag mit ihr zu verbringen und – hatte diesen Vorsatz zwei Minuten später bereits wieder vergessen.

***

Schwester Martha führte Krieg.
Unerbittlich
Konsequent
Krieg gegen die Verwaltung.
Papierkrieg
Transportbegleitschreiben
Ebenso langweilig wie umfangreich.
Name des Patienten: Trotter
Vorname: Wilhelm
Geboren: 11.07.1913
Aufnahme: 09.06.1981
Station: St Helenen Klinikum Berg-Neustadt
VII Chirurgie
Krankenkasse:AKO
verlegt/überwiesen/untersucht: Privatsanatorium Eichenlaub
Dozent Prof. Dr. E. Quarkmann, Wenden
Befund.“Telefon"

hätte Schwester Martha fast eingetragen. Aber richtig: Das Telefon schellte alarmmäßig. Das konnte nur eines bedeuten: Die Leitstelle meldete die Ankunft eines Logiergastes.

Schwester Martha schob die Begleitpapiere "Trottner" zusammen, schob sie in die Akte und nahm sich vor, nachher die reetlichen Eintragungen vorzunehmen. Anschließend aktivierte sie Dr. Schärfners Notfall-Piepser und eilte im Alarmschritt hinaus, gen OP 3.

***

Durch die Kanäle von Berg-Neustadt wühlte sich einer jener unentwegten Autofahrer seinen feuchten Weg durch die Fluten in Richtung Stadtmitte, als er plotzlich überholt wurde. Das Kielwasser des Wahnsinnsfahrers nahm dem Blech-Surfer kurzfristig jede Sicht. Und um das Maß das Schreckens voll zu machen – oder um für neue Patienten zu sorgen – ließ der Fahrer des Rettungswagens, denn ein solcher hatte unseren nächtlichen Autofahrer überholt, mehrmals kurz die Martinshörner aufheulen und fegte über die leere Kreuzung davon. Zurück ließ er einen völlig demoralisierten Autofahrer, der seinen Augen und Ohren weder trauen wollte noch konnte. Dabei hatte der Rettungswagenfahrer nur die Gesetze befolgt Wäre er nur mit dem drehwütigen Blaulicht, aber ohne den anheimelnden Gesang der Martinshörner gefahren, hätte er sich strafbar gemacht.

Ein Gesetz benötigt halt keine Nachtruhe.

E N D E
Kapitel 1


 


Weitere Geschichten gefällig? Hier gibt es mehr

 


Copyright und Weitergabe

Dieser Text ist nur zum privaten Lesevergnügen freigegeben - jegliche Weitergabe, Vervielfältigung oder jedwede kommerzielle Nutzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch timtext/Autor erlaubt. (E-mail an: timtext@timtext.tk) Copyright 1989-2010 by Author & timtext & INFO.
published by INFO/TNT with permission, no reproduction without proceding written permission