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Peter Matthews:

Märchen-Stunde

"Ein wissenschaftlich–didaktisches Wochenend-Seminar für DM 220,–"

 

Copyright 1989/2010 by Author. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Weiterverbreitung auch teilweise ohne schriftliche Genehmigung untersagt. Nachdruck und Weitergabe

 


So hatte es zumindest in der Einladung gestanden. Unter fachkundiger Anleitung sollte uns die Wissenschaft der Märchen-Exegese und deren eigenständige Produktion exemplarisch expliziert werden.

Da ich – wie üblich – nichts besseres zu tun hatte, warf ich mich in meinen Wagen, denselben an und fuhr hinaus ins Märchen-Paradies, zahlte meine 200,– DM zuzüglich 87.– DM Bearbeitungsgebühr und nahm in einem umgeräumten Schrankraum Platz. Tja, und jetzt lausche ich mit großem Erstaunen dem, was der graumelierte Herr dort oben vom Stapel läßt. Aber hören Sie selbst...

„Ein guter Aufmacher, meine Damen und Herren, ist die halbe Story. Wie Sie gleich hören werden, muß er dem Eskapismus und der individuellen Inkarnation subjektiver Zukunftshoffnungen genügend Raum lassen. Herr Meyer, lesen Sie bitte den ersten Satz.“

„Es war einmal ein armes kleines Mädchen.“

„Beachten Sie bitte, von eminenter Relevanz für die Akzeptanz ist ein zur Identifikation prädestinierter Handlungsträger, der diverse Instinkte weckt. Bitte weiter.“

„Das arme kleine Mädchen wohnte in einer armseligen Hütte am Rande des Waldes.“

„Die Integration gesellschaftlicher Randgruppen kann je nach Rezipienten-Ziel geboten sein. Weiter.“

„Das arme Mädchen sorgte in der kleinen armseligen Hütte am Rande des Waldes für sein armes krankes Mütterlein.“

„Wie Sie sehen, werden diverse Sympathie-weckende Elemente kombiniert, um eine breite Fächerung des Rezipientenpotentials zu erreichen. Weiter.“

„Eines schönen Tages ritt der Innig durch sein Land. “

„Beachten Sie das Possessivpronomen 'sein', das die systemimmanente Identifikation des Monarchen mit dem regierten Territorium besonders hervorhebt. Weiter.“

„Zufällig führte den König sein Weg auch an der armseligen Hütte des kleinen Mädchens vorüber.“

„Die Identifikationsperson muß permanent – ich wiederhole: permanent – im Blickfeld des Rezipienten verbleiben. Zum einen, um als Maßstab die Diskrepanz der gesellschaftlichen Gruppen zu verdeutlichen, zum anderen können die geschilderten Komponenten ihres sozialen Umfeldes zu einer Interessen&olidarisierung diverser gesellschaftlich relevanter Gruppen differenzierter Intentionen führen. Weiter bitte, Frau Simmer.“

„Der König aber sah das arme kleine Mädchen und sprach sogleich mit kraftvoller weicher Stimme zu ihr: 'Ei, sag an, wer bist du, sprich!'"

„Durch den Gebrauch der wörtlichen Rede muß auch die sprachliche Kompetenz der staatstragenden Klasse gegenüber dem absoluten Unvermögen des Proletariats de facto expliziert werden. Weiter bitte.“

„I – i – ich heiße Co – co-cordula, Herr König.“

„Wie gesagt, verbalisiertes sprachliches Unvermögen, um von den primitivsten Umgangsformen einmal ganz zu schweigen. Weiter bitte, Herr Schlamm.“

„Das arme kleine Mädchen erzählte dem jungen, prächtigen König von seinem schweren Leben, den Sorgen und dem kranken Mütterlein.“

„Hier beachten Sie bitte, meine Damen und Herren, die Aufgeschlossenheit des Regierenden gegenüber den Alltagsproblemen seiner Untergebenen, was im folgenden noch deutlicher wird. Bitte.“

„Den guten König aber dauerte das arme kleine Mädchen, auch war er von ihrer Schönheit über alle Maßen entzückt, so daß er auf Abhilfe sann.“

„Die Prioritätenabfolge der Motivation des Agierenden ist von eminenter Relevanz, ihm allein obliegt die Aktion, dem Proletariat bleibt die Reaktion! Weiter.“

„So kam es, daß der gutaussehende Prinz das arme kleine Mädchen und sein krankes Mütterlein mit in sein Schloß nahm.“

„Positive Attribute gehören quasi zur „Grundausstattung“ des regierenden Monarchen, ein Transfer auf subdominante Personen ist allein durch die Aktion des sozial Ranghöheren möglich. Ich erinnere an das Zitat:,auch war er von ihrer Schönheit über alle Maßen entzückt‘.

Somit sind zum Ende nur noch wenige Schritte vorzunehmen, die jedoch von extremer Wichtigkeit für die Akzeptanz der Story und der Realisierung unserer Intentionen sind. Nun folgt der Sympathie – Transfer vom bisherigen Handlungsträger auf den Repräsentanten der Monarchie. Bitte.“

„Und nicht lange darauf nahm der gute König das arme kleine Mädchen zur Frau... “

„Beachten Sie in jedem FaU den Terminus,zur Frau nehmen‘, der sowohl die maskuline als auch die soziale Dominanz des Herrschenden unterstreicht.“

„... und es wurde ein großes Fest gefeiert, und alle im Lande hatten ihr Wohlergehen, und jedermann, der das glückliche Paar sah, sagte... “

„... schau nur, welch schönes Paar, und sie war nur eine einfache Hostesse, als der König sie traf, ist das nicht märchenhaft?“ sprudelte meine Frau mir entgegen und hielt mir die in poppigem Vierfarb – Hochglanzpapier – Druck gestaltete Doppelseite der neuesten Ausgabe des ,Grün–Blau–Violetten-Sonntags–Blattes‘ unter die Nase.

Was sollte ich sagen, sie hatte ja recht. So recht.


E N D E


 


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