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Peter Matthews:

Schüler und andere Unwesen

 

 

Copyright 1989/2010 by Author. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Weiterverbreitung auch teilweise ohne schriftliche Genehmigung untersagt. Nachdruck und Weitergabe

 

"Andy!"
Andreas, genannt `Andy' Reiffenberg, schreckte aus den allerschönsten Träumen seines vierzehn Jahre jungen Lebens auf. Verschlafen drehte er sich auf den Rücken. Wozu sollte er den Garten Eden der Wünsche und Hoffnungen verlassen?
"Andy, sieben Uhr, aufstehen!"
Wie ungezählte Schülermillionen in den vergangenen Äonen verfolgte Andy gespannt mit geschlossenen Augen die allmorgendliche `Der Morgen, die Schule und das Leben'-Ansprache seiner Mutter. Obwohl sie dabei aus dem schier unerschöpflichen Reservoir generationenlanger mütterlicher Erfindungsgabe profitierte, schienen gelegentliche Wiederholungen nicht auszuschließen zu sein. Welche der siebenhundertzweiundvierzig Standardsätze Andys Mutter heute verwandte, um ihren Filius für das Leben als solches und die Schule im besondern aufzumuntern, überlasse ich ganz Ihnen. Ja, zur Feier des Tagesanbruches dürfen Sie die Worte der Mutter aus dem reichen Schatz IHRER Erinnerungen beisteuern. Zu diesem Zwecke lasse ich die folgenden drei Zeilen frei.



Die ebenso inadäquate wie weitverbreitete lasche Reaktion der heutigen Schülerschaft wurde umgehend von Andy in geradezu klassischer Manier dargestellt.
"Watt denn, schon wieder Montag???"
Es folgte ein Ausdruck tiefster Müdigkeit und starkem Sauerstoffmangel, die jedem Zahnarzt die Arbeit erheblich erleichtert hätte, gefolgt von einem euphorischen Ausruf unbändigen Tatendrangs:
"Scheiße"
meinte Andy nur verschlafen, drehte sich zur Wand und verschloß die Augen vor der Welt. Es soll in der Tat Zeitungen geben, die man am besten mit geschlossenen Augen liest.(Aber ich habe nichts gesagt.)
Andys Mutter war inzwischen beim Kapitel`Nicht für die Schule sondern für das Leben lernen wir!'angelangt, was allerdings keinen besonders aufrüttelnden Eindruck auf Andy machte - zumal er die ursprüngliche Form dieser Lebensweisheit kannte, und die lautete nun mal genau andersrum. Irgendwann waren jedoch die neuen Gleicheren dieser, unserer Gesellschaft zu der Erkenntnis gelangt, daß dieser Urtext ihren ureigenen Intentionen zuwiderlief und, was weitaus schlimmer war, im höchsten Maße amoralisch und destruktiv war, ja geradezu zu Umsturz, Klassenkampf, Enteignung und Industriefeindlichkeit führen mußte. Dies wiederum mußte letztendlich dazu führen, daß ihnen ihre Dressureinheiten und Naschschubbasen an biologischem Produktions- und Kampfmaterial außer Kontrolle gerieten. Um zu verhindern, daß in diesen Aufzuchtstätten für Bio Inventar statt der nützlichen Konkurrenz so ekelerregende Dinge wie `Kooperation' Fuß fassen konnten, wurde der Satz im Rahmen der ersten Industriellen Resolution gewendet. Ob die Aktion Erfolg hatte? Fragen Sie doch mal einen Schüler von heute. (Wenn er zwischen dem Studium zweier Curriculi Zeit findet, Ihnen zu antworten.)
Da sich Andy also durch den Gebrauch literarischer Lebensanweisungen nicht aufrütteln ließ, kein Weck-Computer oder Rüttelroboter zur Verfügung stand, blieb nur die zwar antiquierte, jedoch erprobt effiziente Methode der Handarbeit.
"Andy, steh' endlich auf, oder willst du vielleicht zu spät kommen? Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige ..."
wußte Andys Mutter noch zu berichten, als sie in Richtung Küche entschwand, um lärmend mit Tellern, Tassen und anderem Küchengerät zu hantieren.
"Is' mir doch egal,"
wußte Andy darauf nur zu erwidern. Doch da sein Intellekt (auch so eine widerliche Entartungserscheinung bei außer Kontrolle geratenem Bionachschub) nun einmal geweckt war, fügte er, sich wieder auf den gebeugten Schülerrücken werfend, hinzu:
"und außerdem ist die Monarchie in diesem, unserem Lande zumindest offiziell schon lange abgeschafft."
Aber egal, ob nun Monarchie, Oligarchie, Anarchie oder Après-Ski, das süße Schülerleben rief "rise and shine". Und da der Schein bekanntlich heutzutage die Welt regiert, (besonders ein gewisser brauner), blieb Andy nichts anderes übrig, als sich zu erheben und unter Zurücklassung seines Bettes ins Badezimmer zu wandern.
Ersparen wir uns die weitere Beschreibung der nun folgenden Prozeduren, die ohnehin jedem aus eigener Erfahrung bekannt sein dürften, wie etwa der morgendlichen Wäsche unter Verwendung des neuesten Asterix-Heftes, des "hast-du-auch-nichts-vergessen-und-bist du-auch-schon-gekämmt"-Frühstückes in neuer Weltbestzeit. Ersparen wir uns auch die Begegnung mit dem freundlichen Busfahrer, der immer einen Scherz auf den Lippen hat:
"In der Mitte ist noch Platz. Wenn ihr nicht weiter durchrückt, schmeiß ich euch alle raus."
Dummerweise hat ein Bus nur eine beschränkte Aufnahmefähigkeit. Womit er - im Vertrauen gesagt - dem Fahrer gar nicht so unähnlich ist. Wie dem auch sei, jedenfalls kommt auch ein Busfahrer nicht gegen das Naturgesetz `Wo ein Körper ist, kann keiner mehr hinrücken'an, so vehement er dies auch zu widerlegen sucht.
"Na wartet!"
Was blieb den Mitgenommenen schon anderes übrig? Der erboste Fahrer des Schulbusses, der für die Aufnahme seiner Staukapazität ins Guinness-Buch der Rekorde kämpfte, konnte sich doch durch ein paar renitente Schülerinnen und Schüler nicht aufhalten lassen. Er stieg aus der vorderen Türe aus, trat etwa zwanzig Schritte von der mittleren Tür zurück, holte tief Luft und spielte sodann "die menschliche Kanonenkugel".
"TILT"
rief Andy, und die Schüler reagierten wie üblich nach dem "Flipper Prinzip, so daß die "menschliche Kanonenkugel" zurück ins Spiel gestoßen wurde. Dieses lustige Spiel wiederholte sich noch mehrmals, gelangte jedoch in bislang keinem Fall zu der für ein Freispiel notwendigen Punktzahl. Pechsache.
Das heitere Gesellschaftsspiel "Schülerpresse" endete zumeist mit der Aufnahme dreier weiterer Fahrgäste auf den verbleibenden Mikrometern zwischen zweitunterster Treppenstufe und Tür, der Hingabe des Fahrers, die Türen dennoch zu schließen (was mitunter schon nach drei Versuchen gelang, ohne daß ein Körperteil den Vorgang blockierte), dem erneuten Einnehmen des Fahrersitzes durch den dazu Befugten und dem Kommando an alle:
"Tief ausatmen und Luft anhalten!"
wodurch es gelang, auch die vorderen Türen zu schließen und die fahrende Sauna endgültig in Bewegung zu setzen, wobei trotz aggressivster Fahrweise keiner der Passagiere zu Fall kam.
Aber davon wollen wir, wie gesagt, gar nicht sprechen. Erst recht nicht davon, wie man sich während der Fahrt die Zeit vertrieb.
Andy hatte sich inzwischen hinter eine Sitzbank vorgekämpft und keifte den dort sitzenden Schüler in nur allzu bekannter Manier an:
"Wollen Sie nicht aufstehen!"
Der Angesprochene seinerseits fuhr entsetzt herum und meinte dann nur:
"Nene, das kenn ich. Wenn ich aufstehe, setzen Sie sich auf meinen Platz. Nene, fällt aus wegen is' nich'!"
"Also, diese Jugend von heute ..."
ergeiferte sich Andy in den höchsten Tonlagen,
"also zu meiner Zeit, da herrschten noch Sitte und Anstand ..."
"Ach, wie interessant, nein, was Sie nicht sagen, aber Sie gehörten nicht zur herrschenden Klasse, oder?"
Der Gerügte ereiferte sich, gesteigertes Interesse zu simulieren, und vertiefte sich erneut in die wissensbereichernde Lektüre der neuesten Ausgabe von "Haut&Hits", einem aufklärerischen Magazin für die junge Generation, dessen jugendlicher Chefredakteur (65) genau wußte, was seine Leser zu sehen (ich vermeide absichtlich das abschreckende Wort `lesen') wünschten.
Dennoch trug das deutlich zum Ausdruck gebrachte Interesse nicht wesentlich zur Beruhigung des sitzbegehrenden Jugendschelters bei.
"Du bist mir ja ein schönes Früchtchen ..."
brachte Mistress Andy, wie es schien, nur unter größter Anstrengung hervor.
"Nicht wahr, das sagt mein Agent auch immer. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich anzupflaumen!"
meinte der Sitzbesetzer ohne die Spur eines vorschriftsmäßig schlechten Gewissens. Eine reizende Jugend war das heute - aber so weit waren wir ja schon mal.
"Auch noch frech werden, wie ...?!"
Andy schnappte äußerst wirkungsvoll wie ebenso erfolglos nach einem Quantum der ohnehin rationierten, abgestandenen Luft.
"Das wird ja immer schöner!!!"
"Ja, wenn Sie das schön finden, warum beschweren Sie sich dann überhaupt?"
erkundigte sich der bislang Sitzengelassene überaus zuvorkommend.
Apropos zuvorkommen: Einer diesbezüglichen Reaktion des Sitzanwärters kam ein allgemeines Winken und Johlen zuvor, das den Schülern galt, die en masse en route zu sein begehrten und die Haltestelle belagerten, an der der Bus gerade vorüberraste. Trotz des vierundsiebzigsten Gebotes, das da sagt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Sitzgelegenheit im öffentlichen Nahverkehr an ungeradeen Tagen bei zumnehmendem Mond, wenn Du nur über eine verbilligte Monatskarte verfügest, nahm Andy den gerissenen Fehdefaden erneut auf.
"Also, du Rotzlümmel ..."
"Das dürfen Sie nicht sagen, meine Mutti hat Nasivin, bäh!"
"Sehen Sie sich das an: keinen Prospekt vor der älteren Generalisation! Wo soll das nur enden? Nein, nein, nein."
Völlig in seinen Grundfesten erschüttert, griff Andy nach seinem Taschentuch. Sodann stellte er seinen Widersetzer - oh pardon, ich glaube es heißt doch `Widersacher' - vor das epochale vorläufige amtliche Endergebnis seines abgeschlossenen Denkvorganges.
"Also, du Rotzbengel ..."
"Nanana!"
"Willst du mich jetzt vielleicht mal ausreden lassen, du ungezogener Pflegel?"
"Würde es etwas bewirken, wenn ich nein sagte?"
Hoffnungsvoll blickte `der Sitzende' gen Busdach. Doch ohne auf diesen Einwand näher einzugehen, sprudelte Andy bereits weiter.
" ...frage ich dich jetzt zum letzten Mal ..."
und wurde unverständlicherweise durch einen Freudenschrei unterbrochen. Mit den strahlenden Augen eines ganzen Kernkraftwerkes inklusive Wiederaufbereitsungsanlage blickte der Sitzplatzinhaber auf Andy wie auf den Weihnachtsmann und fragte kleingläubig:
"Wirklich wahr? Sie fragten gerade zum letzten Mal?"
Andy verlegte sich auf das zur Zeit aktuelle Fach `Forelle auf Landurlaub'.
"Also: willst du jetzt aufstehen und einer schwer arbeitenden Frau deinen Sitzplatz überlassen?"
"Nein, - war's das jetzt?"
" ...oder muß ich erst zum Schaffner gehen?"
Ein Blick so voller Unschuld traf Andy, daß sich dieser zu fragen begann, ob seinem Gegenunter eigentlich klar war, daß es zwei Geschlechter auf dieser unserer Welt gab, die sich geringfügig unterschieden.
"Zu wem bitte?"
"Zu dem Manne, der die Richtung dieses Vehikels bestimmt!"
"Mmm, und wozu?"
"Um mich zu beschweren!"
Ein kurzer taxierender Blick (und das im Bus!).
"Meinen Sie wirklich, Sie müßten noch an Gewicht gewinnen?"
"Urgh!"
"Mit anderen Worten: Ihnen paßt die janze Richtung nich', wa?"
"Also, stehst Du jetzt auf, oder muß ich?"
"Wer will denn? Und ich muß jedenfalls nicht. Aber abgesehen davon: Verfügen Euer Allergnädigste überhaupt über eine gültige Fahrerlaubnis der Klasse zwei und einen Personenbeförderungsschein?"
"Nein, aber ich wüßte nicht, was das mit Deiner Renitenz zu tun hätte."
"Ich weiß zwar nicht, wo Sie bei mir ein Reagenz entdeckt haben wollen, aber wie Johannes Wölfchen aus Frankfurt sagte: Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden. Wenn's Ihnen Spaß macht, bitte, aber eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen ..."
"Und das wäre????"
"Selbst wenn Sie es schaffen sollten, zum Fahrer zu gelangen, glaube ich nicht, daß er Ihnen ohne Führerschein und Personenbeförderungsschein seinen Platz überläßt!"
Sprachs, ließ das Ausrufungszeichen über seinem Kopf schweben und vertiefte sich erneut in das pädagogisch äußerst wertfreie Kapitel `Das Liebesleben der 14-16jährigen Neanderthaler' - Titelstory der aktuellen Ausgabe von Haut&Hits.
Aber wie gesagt, all diese kleinen Freuden eines bundesdeutschen Schülerdaseins wollen wir uns schenken. Selten genug, daß einem so etwas in unserer materialistischen Welt geschieht.


* * *

Andy hat inzwischen den festen freiheitlichdemokratischen Grund unter den Füßen verloren und befindet sich hinter der diesen Teil der Welt gegen das Areal der Klausuren und des Klassenkampfes abschließenden Mauer. Auf dieser hat er (aber nicht nur er) diverse Ringbücher und Hefte äußerst dekorativ verteilt. In der mißgünstigen Fachwelt wurde dieser Hort jugendlicher Produktivität zu früher Stunde als `Klauhaus' bezeichnet. Dennoch kamen auch diese Kunstkritiker nicht drumherum, zugeben zu müssen, daß manche dieser fachgerecht erstellten, meisterhaften Kopien im Laufe des folgenden Tages den einen oder anderen Lehrkörper des ehrwürdigen Institutes vor die schicksalhafte Entscheidung gestellt haben: Original oder Fälschung???
Gerade war Andy mit der groben Linienführung seines neuesten Werkes `Die Hypotenuse' fertig geworden, als auch schon der bundesweit eintönige - ähem - der bundeseinheitlich mehrtönige Elektronik-Gong zu einem Besuch des architektonisch reizvollen Hortes von Tugend und Weisheit einlud.
Dieser ebenso melodischen wie phonstarken Aufforderung gehorchte eine erwartungsfrohe, begeisterte Schülerschar, die sich umgehend in typisch deutschen, ordentlichen Zweierreihen klassenweise aufstellte und in absoluter Stille gen Eingang marschierte.
Hier wurde sie von ihrer tiefenpsychologisch geschulten und über alles angesammelte Wissen dieser, unserer Erde verfügenden Lehrerschaft sehnsüchtig erwartet. Nach dem gemeinsamen Absingen der Nationalhymne in der großen Wandelhalle mit den Statuen der großen Denker und Lenker des Volkes (letztere überwogen ein wenig), den Geburtstags- und Jubiläumsgratulationen und der Ausgabe der Tageslosung folgten die Schüler freudestrahlend ihren Lehrern in die Klassenräume. Ihre Augen leuchteten, und sie harrten wißbegierig der interessanten, von überaus freundlichen und pädagogisch erstklassigen Lehrern in geradezu thrillerhafter Manier nahegebrachten lebensentscheidenden wissenschaftlichen Geheimnisse, die ihnen heute enthüllt werden sollten ...
Was?!?W i e ?!?Sie glauben mir nicht??Auch nicht nur ein winziges bißchen?Naja.Vielleicht war es ja nicht ganz so.Aber es hätte doch sein können!Oder?
Na gut, weil Sie es sind.Etwas anders formuliert.Vielleicht glauben Sie mir jetzt ...
Die bislang auf dem von einer altertümlichen Steinquadermauer (nicht mal Beton - igitt!) umfriedeten, vorderen Pausenhof verstreuten Schüler erstürmten mehr oder weniger geräuscharm und geordnet die Stufen zum Hauptportal und verschwanden nach und nach im Bauch des steinernen Konformators.
Da es sich wie gesagt bei der Landvoigt-Lembke-Schule um ein schon etwas betagtes - na, geben wir es offen zu, bejahrtes - Gebäude handelte, konnten Andy und seine Mitleidenden in ihren Klassenraum im ersten Obergeschoss gelangen, ohne zuvor die unterirdischen Gebäudeteile inspiziert zu haben. Eine ziemlich einfallslose Architektur, wie man sich vorstellen kann. In welchem Objekt moderner Schulbaukunst wird den Schülern noch ein solcher Orientierungssinn abverlangt? Man stelle sich das vor: In die oberen Etagen zu gelangen, indem man die Treppe 'rauf geht - das ist einfach lachhaft und keine Architektur.
Erst viel später in ihrem Leben werden Andy & Co. bitter erfahren müssen, daß sie sich in der modernen Welt nicht recht orientieren können. Sie suchen nach einer abwärtsführenden Treppe, wenn sie ins Tiefgeschoß einer Behörde wollen, und ähnlich unlogische Dinge. Sie sehen nicht ein, daß beruflicher Aufstieg nur über den Untergrund führt. Und warum? Weil ihre unverantwortlichen Eltern sie auf eine so altertümliche - aber ich glaube, ich schweife ein wenig ab.
Im Klassenraum in der ersten Etage herrschte das übliche Tohuwabohu einer lehrerlosen Klasse, als Andy eintrat. Dieser Zustand änderte sich erst fünf Minuten später. Schlagartig. Aber nicht nur das. Der allseits beliebte Klassenordinarius Dr. G.I. Schweinebacke ... (ach ja, ich wollte ja nicht mehr schwindeln- also noch mal:) Klassenordinarius Dr. Gotthold Isidor Schweinebacke, seines Zeichen Mathematikus (böse Zunge behaupten, dies sei der einzige kus, den er jemals erhielt), spielte heute Sandmännchen. Ja, er hatte der staunenden Klasse etwas mitgebracht. Und dieses Etwas wabbelte unförmig und schwarz, wie ein Küken der Mutter folgt, hinter dem Ordinarius in den Klassenraum. Wenn man etwas genauer hinsah - und die Klasse tat dies ausgiebig -, konnte man feststellen, daß es sich bei dem Küken um einen leicht übergewichtigen, lackbeschuhten, apfelsinenwangigen Jungen handelte, der in einem dunkelblauen, zwei Nummern zu großen Anzug der Biedermeierzeit steckte, unter dem er ein weißes Hemd mit Rüschenborde und einen sogenannten Vatermörder trug. Eine kurze, schmale, dunkelblaue Krawatte fehlte ebensowenig wie Handschuhe und Melone.
Die zweiundzwanzig Jungen mußten sich sehr beherrschen, um beim Anblick dieses etwa einen Meter und zwanzig großen Gnoms nicht lauthals aufzulachen.
Aber Beherrschung war nun einmal ihre schwache Seite.
"Der kommt wohl direktemang aus dem Wachfigurenkabninett?!?"
Langsam, aber gewaltig wabbelte der Unbekannte herum und warf Andy einen Blick zu, der laut und vernehmlich bedeutete: Tiefste Provinz.
Doch jetzt ergriff Dr. G.I. Schweinebacke das in der Luft hängende Wort.
"Ich darf Euch Euren neuen Mitschüler vorstellen. Ähem. Heinrich Maria von Schimmerfils. Er, ähem, kommt aus Düsseldorf und ist neu zugezogen. Ich hoffe, Ihr nehmt ihn freundlich auf. Soooo, ah ja, neben Andreas ist noch ein Platz frei, setz' dich dahin."
Majestätisch wabbelte Heinrich Maria von Schimmerfils auf seinen Platz zu. Dort angekommen, setzte er behutsam seinen echt ledernen Diplomatenkoffer auf den Tisch - nicht ohne diesen zuvor desinfiziert zu haben -, zog sich mit Daumen und Zeigefinger die Hosebeine an den korrekt geplätteten Bügelfalten etwas über die schneeweißen Socken und nahm Platz.
Andy bestaunte ihn wie ein Überbleibsel aus der letzten Eiszeit, dann flüsterte er erschüttert:
"Wo bist Du denn ausgebrochen? Sag mal, mußt du so rumlaufen, oder tust du das freiwillig? Wer läuft denn heute noch so rum? Dunkler Anzug, weißes Hemd, Rüschen, Vatermörder und Handschuhe?! Aber am dollsten ist die Melone - einfach zum Schießen!"
Heinrich Maria schwappte darob entsetzt herum, glubbschte Andy indigniert an, um sodann lauthals zu verkündigen:
"Dieweil Ihr, werter Mitschüler Anselm, meine Garderobe zu beanstanden Euch befleißigt, so werde ich meinerseits nicht zögern, selbiges ebenso zu vollführen und es Euch, in Eurem primitiven Wortschatz ausgedrückt, `heimzahlen'. Laßt mich Euch betrachten."
Er betrachtete. Begutachtete Andy von oben nach unten, wechselte sodann die Blickrichtung, ganz so, als wolle er Andy auf einer Mittelandischen Auktion als Haussklaven erwerben. Der grinste `dieweil' vor sich hin. Der war ja zu drollig. Ein paar der umsitzenden Schüler transzendierten ihre Aufmerksamkeit vom Unterrichtsstoff auf Andy und Heinrich Maria von Schimmerfils den Dickeren. Und jener begann zu dozieren:
"Betrachte ich mir Eure Garderobe, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann, so kann ich nur schaudernd bemerken, daß es mir bei eurem Anblick unglaublich erscheint, daß seit der Blütezeit des Neanderthaler geheißenen Menschentypus mehr als zehn Sonnenwenden vergangen sein sollen. Euere Kleidung - obschon sich dieses Wort zu recht gegen seine Verwendung verwahren würde - ist geradezu ordinär zu nennen. Zumindest seid ihr seit mehr als zwei Jahren herausgewachsen, und über eine ebensolche Zeitspanne hinweg dürfte sie in keinen allzu nahen Kontakt mit dem feuchten Element geraten sein. Ihr seid, primitiv ausgedrückt, ein Schmutzfink."
Sprachs und wandte sich graziös dem Inneren seines Koffers zu. Zuwendung erhielten die beiden allerdings auch von Dr. G.I. Schweinebacke, der inzwischen aufmerksam geworden war und forderte:
"Heinz, übertrage den Satz bitte ins Deutsche."
Woraufhin sich Heinrich Maria von Schimmerfils mit schwappenden Gliedern von seinem spartanischen Sitzmöbel erhob und piepste:
"Sehr geehrter Herr Oberstudienrat. Ihrer freundlich geäußerten Aufforderung sehe ich mich leider nicht in der Lage nachkommen zu können. Dies aus folgenden Beweggründen:
Erstens lautet mein Name - wie Sie unschwer meiner Immatrikulation an diesem Institut entnehmen können - nicht `Heinz', sondern Heinrich Maria. Im Interesse einer für den reibungslosen Ablauf des Unterrichtes notwendigen Zeitersparnis sei es Ihnen jedoch gestattet, mich lediglich mit `Heinrich' anzusprechen. Weitergehende plumpe Vertraulichkeiten muß ich mir jedoch unter Berücksichtigung meines Standes und Ranges sowie der jahrhundertewährenden Tradition derer von Schimmerfils verbitten."
Oberstudienrat Dr. Gotthold Isidor Schweinebacke war sprachlos.Nicht aber der jüngste Sproß derer von Schimmerfils.
"Zweitens muß ich leider gestehen, daß ich mich zum Zeitpunkt Ihrer Befragung in einer Diskussion, die Unbedarftheit gepflegter, distinguierter und modischer äußerer Erscheinung betreffend, mit diesem, meinem Mitschüler Anselm oder André - ich vergaß den genauen Namen - befand. Ich bitte diese, meine Erklärung zu akzeptieren und mein Vergehen gegebenenfalls mit den erfoderlichen Maßnahmen zu ahnden."
Von lautem Gelächter begleitet, nahm er seinen Platz wieder ein. Dr. G.I. Schweinebacke war dagegen nicht ganz so eingenommen vom Auftritt seines neuen Schülers. So kam es, daß die Diskussion in der folgenden Pause fortgesetzt wurde. Andy und Heinrich hatten nämlich eine sogenannte `Aufgabe zur Vertiefung und Einübung des behandelten Unterrichtsstoffes' aufbekommen, welcher Fachterminus unter progressiven Pädagogen anstelle des veralteten Ausdrucks `Strafarbeit' weitgehende Verbreitung findet. Andy war trotz dieser zusätzlichen Möglichkeit, den Schatz seines Wissens anzureichern, gar nicht gut auf Heinrich zu sprechen - aber `sprechen' war es eigentlich nicht, was er bezüglich der Person des Helden von Schimmerfils beabsichtigte.
"Du blöder Hammel, Mensch! Konntest du mich nicht aus dem Spiel lassen? Hättest ruhig sagen können, Du hättest gepennt oder so was, aber nein ..."
brüllte er Heinrich an.
Seine freundlichen Worte fanden bei der friedliebenden Schülertraube, die die beiden vor der Einsichtnahme durch das Aufsichtspersonal und das Direktorium abschirmte, ungeteilten Zuspruch.
Erste abwiegelnde Worte, die die beiden Streithähne vom Kampf abhalten sollten, wurden laut.
"Kloppt Euch, ich will Blut sehen!"
"Schlag ihn zu Mus!"
Heinrich hatte währenddessen mehrmals aufgeglubbscht wie ein angeschossener Grisley und ließ sich auch nicht durch die besänftigenden Worte der umstehenden Schüler an einer seiner gefürchteten Antworten hindern.
"Werter Kommilitone Anselm. Mit großer Verwunderung habe ich Ihre im Zustand äußerster Erregung vorgebrachten stil- und haltlosen Anschuldigungen vernommen. Zur Erwiderung Ihrer Beleidigungen, für die ich angesichts Ihres Zustandes keine Satisfaktion fordern werde, beschränke ich mich auf folgende fünf Bemerkungen:
1. Mir ist in der gesamten mir präsenten - und mir sind 89,75% der gesamt existierenden präsent - biologischen Literatur keine spezifizierte Untersuchung des Geisteszustandes männlicher kastrierter Mastschafe bekannt. Somit entbehrt die Bezeichnung `blöder Hammel' jeglicher Grundlage und ist somit irrelevant.
2. Mein Name ist Heinrich Maria von Schimmerfils, und ich verlange gerade von Euch mit diesen, meinen Namen angesprochen zu werden.
3. Dagegen trifft es zu, daß ich mich der Gattung homo sapiens zugehörig fühle, die sich in der Vulgär-Publizistik als Mensch zu bezeichnen pflegt. Ich sehe allerdings keinen Anlaß, dies ausdrücklich zu betonen.
4. Ich gab zu, geistig nicht dem Unterricht gefolgt zu haben. Mit Euch gespielt zu haben, daran fehlt mir jedoch jegliche Erinnerung.
5. Solltet Ihr es nochmals wagen, mich und den ehrwürdigen Namen derer von Schimmerfils, den zu tragen ich die Ehre habe, zu verunglimpfen, werde ich Satisfaktion verlangen müssen ..."
Vor weiteren `Bemerkungen' Heinrichs bewahrte Andy glücklicherweise der Schulgong.
Biologie stand auf dem Stundenplan, was auch eingehalten wurde. Frau Doktor Dollarmann tarf wenig später im Bio-Saal ein - leider unbemerkt von einem Schüler, der dabei war, die Tafel etwas zu entsäubern. Überflüssigerweise bat er einen der umstehenden Schüler, die seine zeichnerischen Meisterwerke einer kritischen Würdigung unterzogen:
"Sag mir, wenn sie kommt!"
"Sie ist da,"übernahm Frau Doktor Dollarmann höchselbst die angeforderte Benachrichtigung des Nachwuchsvasarélys.
"Wenn Du in der Arbeit so gute Erfolge gehabt hättest wie an der Tafel, wäre das besser für dich," kommentierte sie sodann angesichts des Tafelkunstwerkes die Leistungen des ertappten Künstlers.
Erschüttert blickte sie in die lernbegierigen Gesichter ihrer Klasse.
"Sie halten wohl die Chloroplasten für kleine, grüne Männchen, die da rumhüpfen, oder?"
Na, für was sollte man sie denn sonst halten? Na eben. Der Unterricht nahm seinen gewohnten Verlauf, in dem unter anderem die existenzielle Frage geklärt wurde, warum nicht 2500 Tiger auf einem Qudratmeter leben - nicht zuletzt deshalb, wie Frau Doktor Dollarmann zugeben mußte, `weil die da nicht hinpassen' - und der Entdeckung des neuen Schülers. Der mußte, so verlangte es der alte Biologen-Brauch, erst mal auf seine Kenntnisse geprüft werden. Und da bietet sich der alte Fisch-oder-nicht-Fisch-Trick an, und richtig: Frau Doktor Dollarmann fragte Heinrich mit unschuldiger Miene nach der Definition des Lebewesens `Wal'.
Und der (nicht der Wal, Heinrich!) definierte:
"Die Wale stellen eine Lebewesengattung mit jahrtausendealter Entstehungs-Geschichte dar, die die überwiegende Zeit ihres Lebens im Wasser verbringt."
Die daraufhin ausbrechende - oscarreife - Imitation eines Wettergott Beschwörungsritus der Papua-Guinea-Pygmäen war Heinrich Maria von Schimmerfils völlig unverständlich. Frau Doktor Dollarmann brauchte ihrerseits lediglich fünfundzwanzig Minuten, in denen sie zusammengesunken auf ihrem Lehrerpult kauerte und an ihren Zehnägeln knabberte, um sich von dieser epochalen Antwort zu erholen.
Ihre geistige Gesundheit war allerdings sehr gefährdet, als nach etwa fünfzehn Minuten intensiven Nachdenkens Heinrich Marie von Schimmerfils meinte, die Lösung für das seltsame Verhalten seiner Umgebung gefunden zu haben. Er erhob sich und fragte:
"Verehrte Frau Doktor Dollarmann, erwarten Sie weitere Ausführungen zum Thema `Wale', so will ich diese gerne zu Gehör bringen."
Frau Doktor Dollarmann hob nur völlig entrückt den Kopf, stierte Heinrich wie das siebenundzwanzigste Naturwunder an und flüsterte flehentlich:
"Nein, bitte nicht!"
Wenig später erlöste der Gong den zweiten total geschafften Lehrer, der sich überlegte, ob er wohl doch einen anderen Beruf hätte wählen sollen. Tiefseetaucher sei ein sehr beruhigender, kommunikationsarmer Beruf, hörte man.
Die folgenden Unterrichtsstunden, in denen sich die Zahl der Umschüler periodisch steigend entwickelte, wollen wir uns ersparen. Naja, vieleicht ein paar Schlaglichter auf die vom Schlag getroffenen Lehrkörper werfen, aber mehr nicht!
Erdkunde:"Die Erde dreht sich an den Polen schneller als am Äquator," begründete Heinrich Maria von Schimmerfils eine neue Weltanschauung.
Erdkundelehrer Johannes Meyer konnte sich zwar der `Scheibchen Theorie' seines neuen Schülers nicht ganz anschließen, war jedoch bereits psychisch zu sehr geschwächt, um einen ernsthaften Widerstand aufbauen zu können.
Endlich kam sie, die sechste und letzte Stunde dieses (unter anderem zur Weißglut) reizenden Schultages. Mathe stand auf dem Stundenplan, Lieblingsfach aller (Eltern).
Nachdem man sich gegen halb eins noch einmal gegenseitig einen `Guten Morgen' gewünscht hatte, begann der Unterricht. Zum Abschluß desselben fragte Mathematicus Claus Wankler:
"Na, Heinrich, welcher Unterschied besteht denn zwischen diesen beiden Linien hier an der Tafel?"
"Der Unterschied zwischen diesen beiden strecken besteht darin, daß die Strecke, die durch die Punkte A, B und C geht, von Ihnen, Herr Studienrat zur Anstellung, und die Strecke, die an den Punkten A und B endet, von einem meiner Mitschüler gezeichnet worden ist."
Die Reaktion des Lehrers und der Klasse wollen wir lieber an dieser Stelle verschweigen. (Der Autor genießt und schweigt!) Wenden wir uns statt dessen lieber wieder Andy zu, der gerade das Schulgelände verließ und wieder den weitgehend demokratischen Sektor betrat - und dem dies mehr als je zuvor wie eine Erlösung vorkam.
Zu Hause erwartete ihn schon seine von Neuigkeiten beinahe zerplatzende Mutter, die in ihm das willkommene Ventil sah und sofort die beglückende Botschaft heraussprudeln ließ:
"Andreas, weißt du was?" rief sie ihm aus dem hinter dem Haus liegenden Garten zu, als er gerade das Haus betrat.
"Nein, aber Du wirst es mir bestimmt gleich sagen," vermutete Andy.
"Unsere neuen Nachbarn kömmen aus Düsseldorf und haben einen Jungen in Deinem Alter. Vielleicht gehst Du gleich mal rüber und stellst Dich vor. Kämm Dich aber vorher und zieh dir was Ordentliches an. Sicher werdet Ihr gute Freunde. Frau von Schmi ... äh Schri ... äh Schli "
Voller entsetzlicher Vorahnungen rief Andy dazwischen:
"Etwa `von Schimmerfils'?!?!?"
"Ja, genau, woher weißt Du ... ?"
"Spielt keine Rolle - ich ziehe aus!"
rief Andy und setzte sich an den Tisch, um sich dem Mittagessen zu widmen und über seine Zukunft nachzudenken ...

E N D E


 


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